REPAIR THE REPARATIONS
Stella Meris | 28. Oktober 2023
«Jeder Tod ist ein Tod zu viel»
Der 7. Oktober 2023 wird sich in das kollektive Bewusstsein von Palästinenser*innen, Israelis und Deutschen einbrennen. Momentan kann jedes Wort verletzen, friedlich gemeinte Äußerungen können einseitig oder falsch verstanden werden, Schuldzuweisungen werden oft mit dem Verleugnen der eigenen Verantwortung abgetan, einseitige Medienberichte verzerren die Wahrnehmung. Eines steht jedoch fest: Unter der herrschenden Macht leiden unschuldige Menschen. Leiden ist Leiden. Mein Mitgefühl in diesen Tagen gilt allen Todesopfern sowie ihren Angehörigen und Freund*innen, denen in Gaza und im Westjordanland sowie denen, die auf dem Rave und in den israelischen Siedlungen ums Leben kamen oder in Gefangenschaft genommen wurden. Die Bilder rufen für Jüd*innen weltweit schreckliche Assoziationen hervor, da die Massaker der Nationalsozialisten noch nicht allzu lange zurückliegen. Dasselbe gilt für die Bilder aus Gaza, die Erinnerungen an die Nakba in die Gegenwart zurück katapultieren. Dieser Schmerz und diese Angst sind nachvollziehbar. Meine Anteilnahme gilt auch den über 10'000 politischen palästinensischen Gefangenen, darunter Kinder und Minderjährige, die ihre kostbare Lebenszeit in israelischen Gefängnissen verbringen und zu menschenverachtenden Bedingungen festgehalten werden (die Zahl ist seit dem 7. Oktober von 5'300 auf fast das Doppelte gestiegen! [1]).
Jeder Verlust von Menschenleben ist tragisch und verdient es, betrauert zu werden, jeder Tod ist ein Tod zu viel. Dabei spielen die Gründe, die zum Tod geführt haben, keine Rolle. Ich denke, dass viele Israelis wie auch Palästinenser*innen, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe, dem zustimmen würden. Die meisten wollen einfach in Frieden leben. Die gegenseitige Anerkennung des Schmerzes ist, soweit ich es bezeugen konnte, ein elementarer Bestandteil der Friedensbewegung in Palästina-Israel [2]. Dazu gehören auch die Aufarbeitung und das Verständnis historisch bedingter kollektiver Traumata, wie die der Nakba und des Holocausts. Darüber hinaus muss selbstverständlich auch der andauernden Unterdrückung, Vertreibung und Ermordung der Palästinenser*innen durch den Staat Israel ein Ende gesetzt werden. Die Verantwortung dafür liegt auch bei der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der westlichen Staaten, die zu den Kriegsverbrechen Israels weitgehend schweigen oder diese sogar unterstützen, bis hin zum aktuellen Genozid in Gaza [3].
«Palästinenser*innen als Unschuldige in die deutsch-jüdische Geschichte verwickelt»
Im deutschen Diskurs fällt es offensichtlich schwer, all diese Realitäten gemeinsam zu sehen und sich dem Leid und den Folgen von Traumata aller betroffenen Menschen mit Demut und Rücksichtnahme zu nähern. Es sind die eigenen Schuldgefühle und historischen Verstrickungen im Leid der Jüd*innen, die nach einfachen Lösungen und einem neuen Sündenbock suchen. Statt sich damit zu befassen, dass die Konsequenzen des Nationalsozialismus nicht mit der Vernichtung von 6 Millionen Jüd*innen aufgehört haben, sondern darüber hinaus auch zur Nakba, der palästinensischen Katastrophe, geführt haben, wird nun so getan, als ob das Böse immer schon von den Palästinenser*innen ausging. Ihr Widerstand gegen den zionistischen Kolonialismus, der auch schon vor 1948 mit dem europäischen Antisemitismus gerechtfertigt wurde [4], und gegen die israelische Besatzung wird seit jeher mit Terrorismus und Antisemitismus gleichgesetzt. Dabei wird nicht anerkannt, dass Palästinenser*innen als Unschuldige in die deutsch-jüdische Geschichte verwickelt wurden und dabei nicht nur ihre Heimat verloren haben, sondern ihnen auch das Recht auf ihre Identität und Geschichte abgesprochen wird.
«Palästinenser*innen werden dehumanisiert und kriminalisiert»
Die Existenz von Palästinenser*innen wird in Deutschland systematisch ausgeblendet und ausgelöscht. Die deutsche Politik hat Menschen, die sich für die Gleichberechtigung einsetzen und beispielsweise “From the river to the sea, Palestine will be free!” rufen, mit Terrorismus und Antisemitismus gleichgesetzt. Ihnen wird vorgeworfen, die Solidarität mit den Palästinenser*innen bedeute den Wunsch nach Auslöschung des jüdischen Lebens in Israel. Der Slogan richtet sich jedoch nicht an die jüdische Religionsgemeinschaft, sondern an den ethnokratischen und daher auch zutiefst rassistischen, undemokratischen Staat Israel, der ein gemeinsames, gleichberechtigtes Zusammenleben unmöglich macht. Stimmen, die darauf und auf die historischen wie gegenwärtigen Ungerechtigkeiten hinweisen, werden hierzulande diskreditiert und aus dem öffentlichen Diskurs verbannt [5]. Die wenigen Stimmen, die in der Öffentlichkeit noch wahrgenommen werden, kommen zumeist von deutschen oder jüdischen Personen. Insbesondere palästinensische Journalist*innen, Akademiker*innen und Künstler*innen werden aus dem Diskurs ausgeschlossen [6].
Der politische Umgangston in Deutschland betrifft jedoch nicht nur Palästinenser*innen, mit den Worten des Bundeskanzlers Scholz: “Wir müssen endlich im großen Stil abschieben!” [7] sind alle migrantisch gelesenen Menschen gemeint, die sich gegen den wieder aufstrebenden deutschen Faschismus zur Wehr setzen. In den Medien werden insbesondere arabische und muslimische Menschen mit Terrorismus gleichgesetzt, während sie selbst es sind, die von der deutschen Polizei auf den Straßen in Berlin Neukölln rassistisch schikaniert und angegriffen werden [8]. Friedliche und gewaltfreie Formen des Protests, wie Demonstrationen oder Gedenkveranstaltungen zur Nakba, wurden in den letzten Jahren in Deutschland stark kriminalisiert und verboten [9]. Auch religiöse Formen des Protests, wie etwa das kollektive Gebet vor dem Brandenburger Tor, werden als Unterstützung von Terror ausgelegt [10]. Es spielt keine Rolle, wie sich Palästinenser*innen und ihre solidarischen Mitbürger*innen gegen die Gewaltherrschaft Israels und die deutsche “bedingungslose Solidarität” mit diesen Kriegsverbrechern äußern: Ihnen wird stets Antisemitismus und Unterstützung von Terrorismus vorgeworfen.
Dabei kam der 7. Oktober 2023 nicht aus heiterem Himmel. Viele Aktivist*innen und Organisationen, die gegen die israelische Apartheid und die rechtsextreme Regierung arbeiten, haben so etwas vorausgesehen. Ihr Ruf nach der Befreiung von Palästina, “Free Palestine”, wurde weltweit nicht nur ignoriert, sondern aktiv zum Schweigen gebracht.
«Es gibt kein friedliches Zukunftsszenario ohne das Ende der Apartheid»
Die Arbeit der Menschen, die sich für die Rechte von Palästinenser*innen stark machen, geht nicht von nationalistischen Grundsätzen aus. Sie orientiert sich an der Überzeugung, die schon von Dr. Martin Luther King formuliert wurde: “No one is free until we are all free!” Dabei unterstütze ich sogenannte “linke” wie auch “liberale” oder “religiöse” Kräfte, die sich diesen Werten verschreiben. Die Befreiung von Palästina ist nicht ein Nischenthema, sondern eines, das auch die breite israelische und auch die deutsche Bevölkerung angeht. Es gibt schlichtweg kein friedliches Zukunftsszenario ohne das Ende der Apartheid. Die Herausforderung liegt nicht darin, diese Notwendigkeit anzuerkennen, denn dafür gibt es genügend Berichte, beispielsweise von Human Rights Watch [11] oder Amnesty International [12]. Die Unsicherheit und Verzweiflung vieler Menschen besteht jedoch darin, nicht zu wissen, wie dieses gemeinsame Ziel zu erreichen ist. Die Kriegsmaschinerie ist zu mächtig und bestehende Strukturen scheinen unüberwindbar. Dazu kommen Trauer, Hass und Wut, die sich über Jahrzehnte angestaut haben. Dieses emotionale Pulverfass so zu entschärfen, dass dabei möglichst wenige Menschen Schaden nehmen und Palästinenser*innen nicht nur ihre Grundrechte, sondern ihr volles Recht auf Selbstbestimmung einfordern und erwirken können, ist ein schwieriger Balanceakt.
«Aufarbeitung historisch bedingter Traumata für eine gemeinsame Vision»
Die Stimmen der Palästinenser*innen und Israelis, die sich vor Ort schon seit Jahrzehnten für eine gemeinsame Zukunft mit gleichen Rechten und Pflichten einsetzen, werden zensiert. Ihre Arbeit, die sich mit der Aufarbeitung der historischen kollektiven Traumata befasst und sich aktiv gegen die Apartheid wehrt sowie eine Vision für eine mögliche Zukunft entwickelt, wird kriminalisiert und verachtet. Sie zahlen für ihre Arbeit einen hohen Preis, wie etwa das Unverständnis von Angehörigen, Freund*innen und Familie, aber auch finanzielle Nachteile im Berufsleben. Palästinenser*innen setzen sich Risiken aus, wenn sie mit israelischen Aktivist*innen zusammenarbeiten. Aus der eigenen Gesellschaft wird ihnen “Normalisierung” oder “Verrat” vorgeworfen, die israelische Regierung sowie die Palästinensische Autonomiebehörde überwachen sie. Junge Israelis, die den Militärdienst verweigern, werden ins Gefängnis gesteckt [13]. Die Beziehungen zwischen palästinensischen und israelischen Aktivist*innen werden durch das ungerechte System, in dem sie leben, ständig sabotiert.
Diese mutigen Menschen, die trotz aller historisch bedingten Umstände an die Menschlichkeit appellieren und sich klar gegen die Apartheid und Besatzung äußern und dafür einstehen, dass Palästina befreit wird und eine Zukunft ohne Unterdrückung möglich sein wird, sind ein Vorbild für die ganze Welt. Sie stehen gegen jegliche Form der Diskriminierung. Ihnen sollten die westlichen Medien Gehör schenken. Das weit verbreitete Narrativ von “zwei Seiten”, die sich “im Konflikt” befinden, hat schon lange ausgedient. Nicht nur, weil das Machtgefälle zwischen dem hoch militarisierten, israelischen Besatzungsstaat und dem kolonisierten palästinensischen Volk größer fast nicht sein könnte; auch weil die Linie nicht zwischen “Israel” und “Palästina” verläuft, sondern zwischen denen, die sich für die Dekolonisierung und Befreiung des historischen Palästinas und gleiche Rechte für alle Menschen in der Region einsetzen, und denen, die sich gegen diese notwendigen Schritte wehren. Das Ende der Besatzung im Westjordanland sowie das Ende der Blockade von Gaza sind unabdingbar, um nachhaltigen Frieden und Sicherheit für die ganze Region und alle in ihr lebenden Menschen zu schaffen. Die Verantwortlichen für die zahlreichen Kriegsverbrechen müssen dabei zur Rechenschaft gezogen und aus ihren Machtpositionen enthoben werden.
Die Gegengewalt steht im kolonialen Kontext
Die Gegengewalt, die am 7. Oktober 2023 israelische Opfer forderte, muss man sicherlich nicht gutheißen oder entschuldigen, aber man muss sie im kolonialen Kontext sehen. Klar ist, dass es unfair ist, den Menschen aus Gaza, die über 16 Jahre in einem Freiluftgefängnis eingesperrt sind, mehr als fünf Angriffe überlebt haben und seit 2020 in einem laut der UN unbewohnbaren Gebiet auf engstem Raum leben müssen [14], einen “moralischen Kompass” abzuverlangen. Die Menschen in Gaza wurden seit über einem Jahrzehnt von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen. Für ihren Schmerz und die Aussichtslosigkeit ihrer Situation, die zu den Ereignissen jenes Tages geführt haben, ist auch Deutschland mitverantwortlich.
Antikoloniale und antirassistische Arbeit gegen Faschismus
Es gibt leider keine Möglichkeit, dass die Folgen des Holocausts und des Zionismus pausieren, um sich in Ruhe austauschen und umeinander kümmern zu können. Die daraus resultierende Belastung und der Zeitdruck in Anbetracht des fortschreitenden Genozids in Gaza erschöpfen die Aktivist*innen nicht nur in Palästina-Israel, sondern auch hier in Deutschland. Dennoch ist es gerade jetzt wichtig, an der gemeinsamen Vision eines befreiten Palästinas festzuhalten und nicht nur auf die aktuelle Situation und Repressionen zu reagieren. Massenproteste sind sehr wichtig, keine Frage. Aber auch darüber hinaus müssen eigene Impulse in den Diskurs eingebracht werden, um dem europäischen wie auch israelischen Faschismus klar und bestimmt entgegenzutreten. Die antirassistische und antikoloniale Arbeit ist nicht nur in Bezug auf Palästina, sondern auch in Bezug auf die Klimakrise und die Bekämpfung des Rechtsruckes sowie der gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland elementar. Wenn wir eine Zukunft möchten, die aus der Vergangenheit gelernt hat und eine Vision für eine plurale Gesellschaft bereithält, in der alle Mitbürger*innen sich sicher und frei fühlen können, gibt es auch in Deutschland noch sehr viel zu tun. Ich denke, dass ein genauerer Blick auf Palästina-Israel sowie die deutsche Verantwortung in diesem Kontext viele Lücken im Verständnis und im Bewusstsein sichtbar machen wird. Die im deutschen Klima sehr wohl berechtigte Unsicherheit, sich all diesen Fragen aufrecht zu stellen, müssen wir ebenfalls ernst nehmen. Viele Menschen trauen sich aus Angst davor, Fehler zu machen oder von anderen missverstanden und beschuldigt zu werden, nicht ihre Zweifel an den gängigen Narrativen offen zu äußern. Auch als “weiße Deutsche” mit eigener Familiengeschichte in Palästina-Israel fällt es mir schwer, mich öffentlich zu positionieren und mich zu dem Thema zu äußern. Die Angst davor, öffentlich gebrandmarkt zu werden als Antisemit*in oder Terrorunterstützer*in, aber auch die Angst davor, zur Zielscheibe von queer-feindlichen oder rechtsextremen Kräften zu werden, hält mich nachts wach. Auch das Wissen, dass ich vieles nicht weiss und das Thema aufgrund meiner eigenen Biografie auch niemals “neutral” betrachten kann, lässt mich verunsichert zurück. Ich weiss aber auch, dass meine Intentionen gut sind, dass ich mich gegen das Unrecht, was ich mit eigenen Augen im Westjordanland bezeugt habe und das ich über persönliche Kontakte über die letzten sieben Jahren mitbekommen habe, ausreichen sollte dafür, dass ich mich in diesen deutschen Diskurs einbringen darf.
Da ich selbst Familie in Haifa habe, und viele Freund*innen von mir in der ganzen Region Palästina-Israel verteilt leben, ist mein Engagement für ein befreites Palästina keineswegs selbstlos. Ich wünsche mir für meine Angehörigen und meine Freund*innen eine echte Perspektive und eine Zukunft, die keine weiteren Kriege und keine weiteren Todesopfer erfordert. Um diesem Ziel näher zu kommen, möchte ich das deutsche Publikum dazu ermutigen, ihre Sichtweise auf Palästina-Israel neu zu hinterfragen und aus den eigenen emotionalen Mustern auszubrechen. Das erfordert Offenheit und eine gewisse Fähigkeit zur Selbstkritik im Umgang mit der eigenen Geschichte und den damit verbundenen Gefühlen. Ich bin aber überzeugt, dass diese Auseinandersetzung sich lohnt und auch dazu beiträgt, dem aktuellen Rechtsrutsch in Deutschland standhalten und ihm mit menschlichen Grundwerten und Solidarität entgegentreten zu können.
Umdenken in Deutschland notwendig
Es wird Zeit, einige deutsche Reflexe, wie etwa die Dehumanisierung der Palästinenser*innen und Muslime, zu verlernen und den Menschen, die für ihre Angehörigen auf die Straße gehen wollen, den Raum zur öffentlichen Trauer und Wut zu überlassen. Ihre Kritik an Israel und Deutschland als Mittäter und als Mitverursacher der aktuellen Tragödie sind ihr gutes Recht. Der Impuls, ihre Stimmen zu diffamieren, um sich nicht mit dem palästinensischen Leid auseinandersetzen zu müssen, um emotional nicht für sie dasein zu müssen und, im Gegenteil, ihnen ihre Situation noch zusätzlich zu erschweren, sollte in der deutschen Gesellschaft genauso geächtet werden wie Antisemitismus. Das Leiden von zwei Völkern gegeneinander auszuspielen, ist grausam und zutiefst destruktiv. Daraus resultieren buchstäblich mehr Tote.
Der Siedlerkolonialismus und die fortlaufende Nakba, die Vertreibung und Enteignung der Palästinenser*innen seit 1948, sowie die zionistische Staatsideologie Israels sind die Ursachen für die andauernde Gewalt in Palästina-Israel [15]. Die Rufe auf Protesten wie “Ongoing Nakba”, “End Apartheid!” und “Stop the Genocide!” weisen auf diese anhaltende Gewalt hin, die aus dem Zionismus und dem europäischen Antisemitismus resultiert. Deutsche, andere westliche sowie israelische Politiker*innen und Medien bemühen sich vehement, diese mutigen Stimmen, die sich gegen diese Gewalt einsetzen und denen jedes einzelne Menschenleben mehr wert ist, als Ideologien, Ethnie oder Religionszugehörigkeit zum Schweigen zu bringen. Der Widerstand gegen die Apartheid und das bestehende System kommt aus der Bevölkerung, von Menschen, die sich trauen, aufeinander zuzugehen, das gegenwärtige und das historische Leid des anderen anzuerkennen und sich gemeinsam für bessere Lebensbedingungen und gleiche Rechte für alle einzusetzen. Dieser gemeinsame Widerstand entsteht in den hart umkämpften Räumen, in denen ein Dialog überhaupt noch möglich ist, trotz der Mauer, trotz Checkpoints, trotz Repressionen und Einschüchterungsversuchen. Diese Menschen, die sich für die Rechte von Palästina einsetzen, werden wie Kriminelle behandelt. Auch in Deutschland werden sie festgenommen und für ihr Engagement gegen Faschismus und für demokratische Grundrechte wie Meinungsfreiheit und internationale Menschenrechte bestraft. “Deutschland finanziert, Israel bombardiert” ist ein weiterer Ruf, den man in den Straßen Berlins und anderen deutschen Städten hören kann.
Wiedergutmachung
Die finanzielle Verstrickung von Deutschland geht auf das Wiedergutmachungsabkommen von 1952 zurück. In der Nachkriegszeit wurden die sogenannten Reparationszahlungen zum größten Teil an den neu gegründeten israelischen Staat und nicht an jüdische Individuen bezahlt. Es ist wichtig, auf die materiellen und historischen Bedingungen von Israel hinzuweisen. Deutschland war sein Hauptfinanzierer, zumindest in den ersten Jahren. Das Geld, das Deutschland in Anbetracht seiner Schuld am jüdischen Volk zu zahlen bereit war, wurde als Wiedergutmachung bezeichnet. Dies ist ein deutsches Wort, das anders als "Vergebung" impliziert, dass der Täter selbst die Dinge "wieder gut machen" könnte. Ich denke, das Wort ist sehr ungünstig gewählt, da es nicht möglich ist, nach dem Völkermord an 6 Millionen Jüd*innen und der Ermordung anderer Minderheitengruppen diese Verbrechen ungeschehen zu machen. Stattdessen lenkt das Wort auch davon ab, dass diese deutschen Reparationszahlungen in Wirklichkeit deutsche Investitionen waren, die Deutschland langfristig halfen, sich wirtschaftlich und "moralisch" wieder als Global Player zu etablieren. Deutschland hat auf mehreren Ebenen von diesen Zahlungen an den Staat Israel profitiert. In dem Abkommen war klar, dass der Nazi Globke und Adenauer im Amt bleiben und Ben-Gurion dazu schweigt, wenn er das Geld haben möchte. Daher ist es heuchlerisch und falsch, diesen Begriff der Wiedergutmachung zu verwenden. Das Trauma und die Folgen des Holocausts verschwinden nicht durch den Aufbau eines jüdischen Staates, schon gar nicht, wenn dieser auf Kosten eines anderen Volkes entsteht. Bis heute werden jüdische Stimmen, die mit dieser offiziellen politischen Erzählungen nicht einverstanden sind, von Deutschen als antisemitisch bezeichnet. Dabei wird über den wahren Antisemitismus, der in Europa und Deutschland leider nie aufgehört hat, geschwiegen.
Auf das Versagen der deutschen Politik, dass Nazis in einflussreichen Positionen bleiben konnten und in den meisten Fällen nie vor Gericht gestellt wurden, wurde schon von zahlreichen Aktivist*innen hingewiesen, meist von Migrant*innen, die dem Fortbestehen des Rechtsextremismus am meisten ausgeliefert sind. Rassistische Übergriffe wie Hanau oder Halle sind kein Zufall und auch kein Einzelfall [16]. Das Versagen der Gesellschaft und Politik, diese Menschen vor Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu schützen, ist mehr als bitter, da Deutschland sich mit seiner “Aufarbeitung der Geschichte” international brüstet. Dieser Drang, die eigene Vergangenheit zu verstecken und zu verdrehen, Verantwortung von sich zu weisen und die eigene antisemitische Geschichte auf Muslime zu projizieren, spielt den rechten Kräften in die Hände. Weiße Deutsche wie verschiedene AfD-Politiker*innen und Aiwanger können explizite antisemitische Aussagen treffen und trotzdem im Amt und anderen institutionellen Machtpositionen bleiben.
Die meisten Verbrecher des nationalsozialistischen Regimes sind bereits tot und wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Meine Generation und auch die Generation meiner Eltern sind nicht “schuldig” für den Holocaust, aber sie sind verantwortlich dafür, aus der Geschichte zu lernen und gegen Menschenrechtsverletzungen einzutreten, unabhängig davon, wen sie betreffen. Daher rufe ich die Deutschen zur vollen Solidarität auf mit den mutigen jüdischen, israelischen und palästinensischen Stimmen, die genau das schon seit Jahrzehnten tun und sich dafür einsetzen, dass “Never again!” für alle gilt.
Erinnerungskultur
Ebenso wichtig ist der Ruf “Never forget!”, der uns an die Gräueltaten der Vergangenheit erinnern soll. In der deutschen Erinnerungskultur bestehen diesbezüglich noch große Lücken. Die Gewalt deutscher Kolonien wie auch das Unrecht, das den Palästinenser*innen angetan wurde, wird nicht ausreichend aufgearbeitet. In den Schulen fehlt das Bewusstsein für diese Geschichten. Die Palästinenser*innen, vor allem Muslime, aber auch Christen und Juden, lebten im Gebiet des heutigen Palästina-Israel schon lange bevor das zionistisch Projekt entstand und auch lange vor dem Holocaust. Sie sind die Hauptfigur dieser Geschichte, die in den westlichen Medien und im deutschen Bildungswesen fehlen. Dabei sind Palästinenser*innen von zentraler Bedeutung. Es ist unmöglich, die deutsch-israelische Geschichte ohne sie zu verstehen. Ihre Existenz ist nicht verhandelbar, und die Bemühungen Deutschlands, Israels und anderer mitschuldiger Länder, ihre Stimmen über Jahrzehnte zum Schweigen zu bringen, sind brutal. Diese Weigerung, sich mit dem gesamten Bild der Geschichte zu befassen, hatte über die letzten 75 Jahre massive tödliche Konsequenzen für das palästinensische Volk. Ihr Land wurde ihnen Stück für Stück genommen, sie leben unter einem brutalen Apartheidsystem, das aus der Negierung ihrer Existenz und ihrer Rechte folgt. Deutschland muss sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die sogenannten Reparationen, die Wiedergutmachung der deutsch-jüdischen Beziehungen, auf Kosten des palästinensischen Volkes erfolgten. Die Palästinenser*innen zahlen den Preis für Verbrechen, die sie nicht begangen haben. Dies ist der Kern aller Probleme, die sich im öffentlichen Diskurs in Deutschland nicht nur in den letzten zwei Wochen, sondern in den letzten 75 Jahren offenbaren. Die Gleichsetzung von einem Staat, in diesem Falle Israel, und einer religiösen Gruppe, dem jüdischen Volk, ist zutiefst problematisch, und viele Akademiker*innen und Intellektuelle haben dies bereits angeprangert. Es ist heuchlerisch, über die deutsche Erinnerungskultur zu sprechen, ohne die Nakba zu erwähnen. Das arabische Wort für "Katastrophe" erinnert an die gewaltsame Vertreibung von 750 000 Palästinensern, 80% der damaligen palästinensischen Bevölkerung mussten während des 1948er-Krieges fliehen. Sie verloren ihre Heimat und ihre Angehörigen [17]. Deutschland erkennt dieses Verbrechen und das Recht dieser Flüchtlinge auf Rückkehr in ihr Heimatland nicht an [18].
In Gaza, wo 2,3 Millionen Palästinenser*innen leben, sind 70% von ihnen Flüchtlinge in ihrem eigenen Land [19]. Wie viele palästinensische Aktivist*innen betonen, ist die Nakba noch nicht zu Ende. Die Vertreibung und ethnische Säuberung dauert bis heute an, nicht nur in Gaza, wo sich gerade vor den Augen der ganzen Welt ein Völkermord abspielt, sondern auch im Westjordanland, wo Angriffe von Siedler*innen die Existenz der einheimischen Bevölkerung Palästinas bedrohen [20]. Weder in Deutschland noch in Israel wird die vollständige Geschichte in den Schulen oder Familien gelehrt. Das Ignorieren der Existenz der Palästinenser*innen und ihrer Rechte ist das Kernproblem aller Gewalt in dieser Region. Viele Menschen beginnen zu sehen und zu verstehen, dass Israel ein kolonialistisches Projekt ist, das niemals "Frieden" bringen wird, da es auf der Verleugnung und Auslöschung der einheimischen Bevölkerung aufgebaut ist. Viele Menschen fordern ein Ende der Apartheid und der Besatzung, sie haben die Vision eines freien Palästinas ohne Diskriminierung und mit gleichen Rechten für alle, die zwischen dem Fluss und dem Meer leben. Leider werden ihre Stimmen durch Instagram und Facebook und durch den strukturellen Rassismus, der in jedem Aspekt der israelischen und deutschen Gesellschaft umgesetzt wird, zum Schweigen gebracht. Menschen, die offen für diese Vision eintreten, für einen Staat mit gleichen Rechten für alle, werden zensiert und als "antisemitisch" bezeichnet.
Die westlichen Länder und Medien haben das Leiden der Palästinenser*innen nie so wahrgenommen und behandelt wie andere Leiden. Der deutsche Staat hat 75 Jahre lang so getan, als ob der palästinensische Schmerz keine Rolle spielen würde. Keine Berichte über die unzähligen Morde an ihnen und keine Berichte über diejenigen, die noch leben und für Gerechtigkeit und Freiheit kämpfen [21]. Weder tot noch lebendig spielen sie für die Kriegsmaschinerie eine Rolle. Ein Völkermord ist in vollem Gange, und doch ist es nicht erlaubt, dagegen zu protestieren. Die Machthaber rufen ganz offen zur vollständigen Zerstörung des Gazastreifens auf [22], und doch ist es hier in Deutschland nicht erlaubt, dagegen aufzuschreien. Zorn und Tränen liegen nah beieinander. Es ist wichtig, hinter der Wut der pro-palästinensischen Demonstrant*innen die Traurigkeit und das jahrzehntelange Leid zu sehen. Ihre Demonstrationen sind gerechtfertigt, und um der Menschlichkeit willen sollten sich mehr Menschen ihren Rufen für die Freiheit und Befreiung Palästinas anschließen.
Das Ende der Apartheid ist unausweichlich. Es scheint mir wichtig, die geleistete Wiedergutmachung von Deutschland in Frage zu stellen und sich genau zu überlegen, inwiefern diese Reparationszahlungen zu noch mehr Leid geführt haben. Mit meinem Slogan “Repair the reparations!” rufe ich dazu auf, die Vergangenheitsbewältigung Deutschlands neu zu überdenken und den antifaschistischen Stimmen, die sich für echten Frieden einsetzen, endlich zur Seite zu stehen. Ob diese Menschen Israelis sind, Jüd*innen aus anderen Ländern, Palästinenser*innen oder Deutsche sollte dabei keine Rolle spielen. Im Kampf gegen Faschismus und Apartheid sind wir natürlich unterschiedlich betroffen, dennoch brauchen wir alle Kräfte. Die Anerkennung unserer Menschlichkeit und der Versäumnisse der Vergangenheit sind dabei zentral, um die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit zu überwinden und einander zu stärken und zu ermutigen. “We are one!” und wir lassen uns nicht spalten. Gegen Genozid und Apartheid, gegen Kolonialismus, gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus. Wir glauben an ein befreites Palästina und an unsere gemeinsame Zukunft.
[1] “Israel doubles number of Palestinian prisoners to 10,000 in two weeks”, AlJazeera, 21.10.2023, https://www.aljazeera.com/features/2023/10/21/number-of-palestinian-prisoners-in-israel-doubles-to-10000-in-two-weeks
[2] The Israeli-Palestinian Joint Memorial Day Ceremony, https://cfpeace.org/ceremony23e/
[3] “Aimé Césaire reminds us why Western powers accept the genocide committed in Gaza”, 25.10.2023, https://www.newarab.com/opinion/why-western-powers-accept-israels-genocide-gaza
[4] “Zionism, anti-Semitism and colonialism”, Aljazeera, 24.12.2012, https://www.aljazeera.com/opinions/2012/12/24/zionism-anti-semitism-and-colonialism
[5] “Germany’s anti-Palestinian censorship turns on Jews”, +972 mag, 4.4.2023, https://www.972mag.com/german-jews-antizionism-censorship/
[6] “Germany must face its issues over Israel and the past. Silencing a Palestinian author won’t help”, The Guardian, 20.10.2023, https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/oct/20/germany-israel-palestinian-author-frankfurt-adania-shibli
[7] “Wir müssen endlich im grossen Stil abschieben!”, Spiegel-Magazin, 20.10.2023 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/olaf-scholz-ueber-migration-es-kommen-zu-viele-a-2d86d2ac-e55a-4b8f-9766-c7060c2dc38a
[8] “Statement on the racist police violence and Repression against Palestinians and Palestine Solidarity in Berlin”, The Left Berlin, 18.10.2023, https://www.theleftberlin.com/statement-on-the-racist-police-violence-and-repression-against-palestinians-and-palestine-solidarity-in-berlin/
[9] Human Rights Watch, https://www.hrw.org/news/2022/05/20/berlin-bans-nakba-day-demonstrations
[10] “Das ist dann wohl diese Unterwerfung”, Die Welt, 26.10.2023, https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus248147052/Islam-Machtdemos-in-Berlin-Das-ist-dann-wohl-diese-Unterwerfung.html
[11] “Human Rights Consensus Around Crime of Apartheid”, Human Rights Watch, 24.3.2022, https://www.hrw.org/news/2022/03/25/human-rights-consensus-around-crime-apartheid
[12] Amnesty International, https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/2022/02/israels-system-of-apartheid/
[13] “Israel and Occupied Palestinian Territories: Conscientious objector detailed in Israel: Yuval Dag”, Amnesty International, 13.4.2023, https://www.amnesty.org/en/documents/mde15/6673/2023/en/
[14] “Gaza ist 2020 unbewohnbar”, Rosa-Luxembourg-Stiftung, 6.4.2020, https://www.rosalux.de/news/id/41914/gaza-ist-2020-unbewohnbar
[15] “The ongoing Nakba means ongoing resistance”, Mondoweiss, 18.5.2023, https://mondoweiss.net/2023/05/the-nakba-was-not-an-event/
[16] “Mölln, NSU, Halle, Hanau – Rechtsterror, Kontinuität und deutsche (Nicht-) Erinnerung”, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Feb. 2023, https://www.rosalux.de/publikation/id/49926/moelln-nsu-halle-hanau
[17] United Nations, “About the Nakba”, https://www.un.org/unispal/about-the-nakba/
[18] “Palästinensische Flüchtlinge: Sonderstatus und "Recht auf Rückkehr", ZDF, 22.10.2023 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/palaestinenser-schutz-rueckkehrrecht-100.html
[19] UNRWA, https://www.unrwa.org/where-we-work/gaza-strip
[20] “UN expert warns of new instance of mass ethnic cleansing of Palestinians, calls for immediate ceasefire”, United Nations Human Rights, 14.101.2023, https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/10/un-expert-warns-new-instance-mass-ethnic-cleansing-palestinians-calls
[21] “How media coverage whitewashes Israeli state violence against Palestinians”, The Washington Post, 28.4.2022, https://www.washingtonpost.com/opinions/2022/04/28/jerusalem-al-aqsa-media-coverage-israeli-violence-palestinians/
[22] “Israel is clear about its intentions in Gaza – world leaders cannot plead ignorance of what is coming”, The Guardian, 24.10.2023, https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/oct/24/israel-gaza-world-leaders-un-genocide-palestinians